Der Weg, den niemand ging
- Maria Winter
- 11. Juni
- 2 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 12. Juni

Meine Hand lag auf dem kalten Fensterglas. Draußen bewegte sich nichts – kein Wind, kein Vogel, kein Laut. Nur der alte Weg, der am Waldrand begann und im Nebel verschwand. Er war nie Teil einer Karte gewesen. Die Dorfbewohner sprachen nicht gerne darüber. Manche behaupteten, er sei verschwunden. Andere, er tauche nur dann auf, wenn er dich rufe.
An diesem Morgen rief er mich.
Ich zog meine Kleidung an, nahm die alte Taschenlampe vom Haken und verließ das Haus. Der Nebel wich kaum einen Schritt vor mir zurück. Ich hätte Angst haben sollen. Doch stattdessen war da etwas anderes – wie eine Erinnerung, die sich erst im Gehen entfaltet.
Der Weg war schmal, holprig und unheimlich. Nach einer Weile wusste ich nicht mehr, ob ich ihm folgte – oder er mir. Irgendwann drehte ich mich um. Das Dorf war nicht mehr da. Ich befand mich irgendwo im Nichts. Der Boden war weich, von Moos bedeckt, Wurzeln schlängelten sich wie Finger durchs Erdreich. Bäume standen dicht beieinander, als wollten sie mich prüfen. Kein Laut, nur mein Atem.
Nach einer Weile begann der Nebel, mit mir zu sprechen. Nicht in Worten – in Bildern, in Erinnerungen, die nicht meine waren: eine Frau in alten Kleidern, ein Junge mit blutiger Stirn, ein Mann, der eine goldene Brosche in der Hand hielt. Vergessene Geschichten. Verlorene Leben.
Dann sah ich sie: Eine Hütte aus schwarzem Holz, eingefallen, von Dornen umgeben. Ich trat ein. An der Wand hing ein Spiegel. Staubig, blind. Ich wischte darüber – und sah mich selbst. Aber nicht wie ich war. Ich war älter. Oder jünger. Oder… anders. Ich trug Kleidung, die nicht zu dieser Zeit passte. Und ich sah etwas in meinen Augen, das ich nicht kannte – aber vermisst hatte.
Neben dem Spiegel stand eine Truhe. Ich öffnete sie. Darin lag eine goldene Brosche – genau die aus der Vision. Und ein Zettel, vergilbt und eingerissen: „Du bist zurückgekehrt. Jetzt kannst du wählen: Erinnern – oder vergessen. Bleiben – oder gehen.“
Ich weiß nicht, wie lange ich dort stand.
„Hallo? Hallo…?“
Die Stimme schnitt durch die Stille wie ein Messer durch Papier. Ich blinzelte. Die Bilder zerfielen vor meinen Augen – wie tausend glitzernde Glasscherben. Ich war in der Bäckerei. Die Verkäuferin sah mich an, das Kartengerät in der Hand – deutlich genervt.
„Bar oder mit Karte?“, wiederholte sie, diesmal schärfer.
Hinter mir räusperte sich jemand ungeduldig. Die Schlange war lang, die Stimmung gereizt.
Ich blickte an mir hinunter. Kein Moos. Kein Nebel. Nur mein getragener Mantel, eine kleine Ledertasche über der Schulter – und der Geldbeutel, den ich noch immer festhielt. Die Realität klebte schwer an mir wie nasser Stoff.
„Mit Karte“, murmelte ich und schob sie in das Lesegerät.
Der Piepton klang fremd. Hart. Mechanisch. Nüchtern.
Ich verließ den Laden mit der Tüte Brot unter dem Arm. Doch in meiner Jackentasche spürte ich plötzlich etwas Rundes, Kaltes. Ich griff hinein: Die Brosche. Golden. Alt.
Unmöglich. Ich blieb stehen.
Der Wind hatte sich gelegt. Kein Laut. Kein Vogel. Kein Mensch weit und breit. Und irgendwo, ganz leise, flüsterte etwas in mir:
„Du hast gewählt.“
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